Kirche im Umbruch
Zwischen demografischem Wandel und nachlassender Kirchenverbundenheit
Eine langfristige Projektion der Kirchenmitglieder
und des Kirchensteueraufkommens der Universität Freiburg
in Verbindung mit der EKD
Einführung
Die Zukunftsfähigkeit der Kirche zu erhalten – eine große Aufgabe für alle, die in der Kirche Verantwortung tragen. Längst nicht alles liegt in eigener Hand, aber es gilt den notwendigen Prozess des ständigen Wandels zu unterstützen und zu gestalten. Dies zeigt auch die aktuelle Studie zur Projektion von Mitglieder- und Kirchensteuerzahlen, die vom Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Albert-Ludwig-Universität Freiburg in Zusammenarbeit mit den 20 evangelischen Landeskirchen und den 27 katholischen Bistümern erarbeitet wurde und nun veröffentlicht wurde. Sie bestätigt, dass vor den Kirchen in Deutschland weitere Jahre der Veränderungen liegen.
So wie in Sachsen, haben auch andere Landeskirchen teils umfangreiche Reformprozesse angestoßen. Neben Sparmaßnahmen und Strukturanpassungen wird überall stärker nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit innerhalb und zwischen Landeskirchen gesucht. Aber auch die Frage, wie Kirche sich auf die heutige Lebenswelt und die spirituellen Bedürfnisse der Menschen ausrichten kann, wie Fragen junger Erwachsener aufgegriffen werden können, spielt eine Rolle.
Auf dieser Seite werden einige Ergebnisse der Studie des Freiburger Forschungszentrums mit dem Fokus auf die sächsische und ostdeutsche Situation vorgestellt. Es werden sowohl vergleichbare Entwicklungen als auch Unterschiede zu den westlichen Gliedkirchen dargestellt. Die in der Studie dargestellten demografischen und finanziellen Prognosen bestätigen die in der sächsischen Landeskirche bereits vorhandene und bekannte Datengrundlage. Diese war der Anlass sowohl für Strukturreformen und Einsparungen in den letzten Jahrzehnten als auch für viele Investitionen in kirchliche Angebote und Arbeitsbereiche. Zuletzt waren diese Prognosen mit einem Zeithorizont bis 2040 in der Konzeption „Kirche mit Hoffnung in Sachsen“ (2016) erläutert worden. Sie bilden damit auch die Grundlage für die aktuellen Maßnahmen zur Anpassung der kirchlichen Strukturen an die bevorstehenden Veränderungen in Sachsen. Mit der vorliegenden unabhängigen Studie werden diese Prognosen bestätigt und um weitere 20 Jahre fortgeschrieben.
Zur Studie „Kirche im Umbruch – Projektion 2060“
Das Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat unter der Leitung von Professor Bernd Raffelhüschen erstmals eine koordinierte Mitglieder- und Kirchensteuervorausberechnung für die evangelische und katholische Kirche in Deutschland erstellt. Für die 20 evangelischen Landeskirchen und 27 römisch-katholischen (Erz-)Diözesen in Deutschland wurde ermittelt, wie sich Kirchenmitgliedschaftszahlen und Kirchensteueraufkommen langfristig bis zum Jahr 2060 entwickeln werden. Das zunächst katholische Forschungsprojekt wurde Mitte des Jahres 2017 auf die evangelischen Landeskirchen ausgeweitet und wird auch von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unterstützt.
Die eindrücklichste Erkenntnis aus dieser Studie ist, dass sich die Mitgliederzahl der evangelischen Kirchen in Deutschland bis zum Jahr 2060 in etwa halbieren wird. Das liegt – und das ist die neue Erkenntnis – aber nur zu knapp der Hälfte am demografischen Wandel – also dem Überhang von Sterbefällen über die Geburten sowie dem Wanderungssaldo. Mehr als die Hälfte des Mitgliederrückgangs beruht auf Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten.
In diesem Sinn seien nach Prof. Raffelhüschen die Ergebnisse nicht als „Untergangsprophetie“ zu lesen, sondern als Aufforderung nach Zusammenhängen zu suchen, auf die Einfluss genommen werden könne: „Hier liegt eine echte Generationenaufgabe“. Er möchte dies aber positiv verstanden wissen, denn die Analyse mache deutlich, dass die Kirche gerade in den kommenden zwei Jahrzehnten weiterhin über Ressourcen zur Umgestaltung verfüge.
Vortrag Freiburger Studie als Video
Auf der Herbsttagung der 27. Landessynode präsentierte Fabian Peters aus dem o.g. Forschungsteam die Ergebnisse mit speziellem Fokus auf die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. Klicken Sie auf das oben stehende Vorschaubild, um das YouTube-Video zu starten.
Entwicklung der Kirchenmitgliederzahlen
Nach der Studie ist bis 2060 insgesamt ein Rückgang von rund der Hälfte der Mitglieder der evangelischen Kirche in Deutschland zu erwarten. Die Zahl würde sich demnach von 21,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 2017 auf 10,5 Millionen im Jahr 2060 reduzieren. Grafisch wird dies in den schlanker werdenden Altersbäumen erkennbar. Im Startjahr 2017 der Projektion sind im Altersbaum drei mitgliederstarke Altersbereiche zu erkennen:
Geburtsjahrgänge 1955 bis 1965: diese geburtenstarken Jahrgänge sind 2017 um die 50 Jahre alt.
Geburtsjahrgänge vor 1940: die Eltern dieser geburtenstarken Jahrgänge, die 2017 um die 75 Jahre alt sind.
Geburtsjahrgänge Mitte der 1980er: die Kinder dieser geburtenstarken Jahrgänge, die 2017 um die 30 Jahre alt sind.
Die Jahrgänge dazwischen sind zahlenmäßig kleiner. Dies liegt zum einen an den geringeren Geburtenstärken dieser Jahrgänge. Zum anderen sind viele junge Menschen aus diesen Geburtsjahrgängen aus der Kirche ausgetreten. Diese Entwicklung betrifft beide Geschlechter, ist aber bei den Männern aufgrund höherer Austrittszahlen stärker ausgeprägt.
Die Mitgliederstruktur der evangelischen Kirche ist durch die geburtenstarken Jahrgänge geprägt. Die Personen der Jahre 2035 und 2060 zeigen das Älterwerden dieser Jahrgänge. Da sich die Anzahl der Kirchenmitglieder aufgrund von Sterbefällen und Kirchenaustritten in den kommenden Jahrzehnten verkleinert und gleichzeitig von unten kleinere Jahrgänge neu hinzukommen, wird der Altersaufbau nach oben insgesamt schmaler.
Vergleichende Entwicklung in Sachsen
Demografische Faktoren
Die Tendenzen und Aussagen über die Altersstruktur lassen sich auch auf die Kirchenmitgliederentwicklung in der sächsischen Landeskirche übertragen. Die Verringerung der Zahl der Kirchenmitglieder bestätigt die Grundtendenz des Papiers „Kirche mit Hoffnung in Sachsen“ (2016), die bis zum Jahr 2040 von einem Rückgang von 713 648 (2015) auf ca. 416.000 Kirchenmitglieder ausgeht. Die Freiburger Studie geht für 2040 noch von 440.000, für 2060 nur noch von 314.000 Mitgliedern der sächsischen Landeskirche aus.
Abgesehen von den regionalen Unterschieden in Deutschland – so leben nur 10 Prozent der Protestanten im Osten – gibt es in den östlichen Landeskirchen im Verhältnis einen höheren Anteil von älteren Gemeindegliedern. Im Vergleich der sogenannten Alterspyramiden fällt auf, dass es für Sachsen zwei entscheidende demografische Einschnitte gibt, die fast an die Dramatik der Kriegsgeneration erinnern.
Während in der Kirchenmitgliederpyramide im bundesweiten Durchschnitt die jetzt 20- bis 30-jährigen kräftig hervortreten, ist in Sachsen ein Einbruch zu verzeichnen. Ursache hierfür sind die in den Nachwendejahren teilweise halbierten Geburtsjahrgänge ab 1991 sowie die Abwanderung vieler junger Familien mit ihren kleinen Kindern in die alten Bundesländer. Auch die geburtenstarken Jahrgänge der heute 50- bis 60-jährigen sind durch die Abwanderung in der sächsischen Landeskirche Sachsen weniger stark ausgeprägt.
Kirchenspezifische Faktoren
Neben den vorfindlichen demografischen Besonderheiten in Sachsen und dem allgemeinen demografischen Wandel mit mehr Sterbefällen als Geburten (mit einer damit verbundenen Verringerung der Kindertaufen), gibt es auch kirchenspezifische Faktoren, die laut der Studie für mehr als die Hälfte des Mitgliederrückgangs verantwortlich sind. Sie werden sichtbar in der Darstellung des Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhaltens.
So werden beispielsweise nicht mehr alle Kinder von evangelischen Müttern auch evangelisch getauft. Zusätzlich treten mehr Menschen aus der Kirche aus als in die Kirche eintreten. Setzt sich diese Entwicklung weiter fort, vergrößert sich der Mitgliederrückgang um weitere 28 Prozentpunkte. In der Summe der Gesamtstudie bedeutet dies, dass die evangelische Kirche bis 2060 52 Prozent ihres Mitgliederstandes von 2017 verloren haben wird.
Diese Erkenntnisse sind im Grundsatz auch für Sachsen festzustellen. Eine Besonderheit stellten in Sachsen die „nachwendebedingten“ Kirchenausstritte dar. So sind mit dem Abgleich der kirchlichen Verzeichnisse mit den staatlichen Melderegistern und der Kenntlichmachung auf den Lohnsteuerkarten mit „ev.“ diejenigen nach der Wende aus der Kirche ausgetreten, die sich schon lange vorher den Bezug verloren hatten. Dies betraf insbesondere die Zeitspanne von 1990 bis 1995.
In den folgenden Jahren bewegten sich die Austrittszahlen weit unter 5.000. In den meisten Fällen waren hier finanzielle Gesichtspunkte der Anlass. Als Beleg dafür sind die besonders hohen Austrittszahlen in der Altersspanne zwischen 25 und 35 Jahren (Eintritt ins Erwerbsleben) zu werten sowie die einmalig erhöhten Austrittszahlen im Zusammenhang mit den Missverständnissen um den Abzug der Kapitalertragssteuer (2014), insbesondere von Menschen im Rentenalter.
Auswirkungen auf die Einnahmesituation der Kirche
Für die letzten Jahre ist festzustellen, dass trotz des Rückgangs der Gemeindegliederzahlen aufgrund von demografischen und kirchenspezifischen Faktoren, die Kirchensteuereinnahmen stabil geblieben und sogar über die Teuerungsrate und erhöhte Personalausgaben hinaus gestiegen sind.
Das scheinbare Paradox dieser gegenläufigen Tendenz liegt einerseits am nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung und einer damit verbundenen erhöhten Beschäftigungsquote auch in Sachsen und andererseits an der „Babyboomer-Generation“, also den starken Geburtsjahrgängen von Ende der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre. Sie sind lebensbiografisch in der Phase der Vollerwerbstätigkeit in den Endstufen und damit hoher Steuerzahlungen.
Diese Entwicklung in Ost und West ist abhängig von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung. Zu erwarten ist eine Stagnation der Einnahmen durch den Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Selbst wenn in den nächsten Jahren auch in Sachsen mit gleichbleibenden Einnahmen gerechnet werden kann, würde sich damit angesichts höherer Kosten und Ausgaben zunehmend eine Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben öffnen.
Für die sächsische Landeskirche müssen besondere Grundvoraussetzungen genannt werden: So fehlte der Landeskirche eine ausreichende „Eigenfinanzierung“. Die Landeskirche ist zu über ein Drittel vom EKD-Finanzausgleich abhängig.
Dieser Umstand ist der Tatsache geschuldet, dass die Einkommensverhältnisse gegenüber dem Westen deutlich niedriger sind und aufgrund des höheren Durchschnittsalters weniger Personen steuerpflichtig sind. Es fehlt auch weitgehend die Gruppe von Spitzenverdienern, die ein hohes Steueraufkommen tragen.
Reaktion auf die Einnahmesituation der Landeskirche
Seit den 1990er Jahren reagiert die sächsische Landeskirche auf die bisherige Entwicklung durch Strukturanpassungen und Einsparungen, die den Handlungsspielraum in der Gegenwart und für die Zukunft ermöglicht haben. Allerdings zeigt sich auch, dass die immer wiederkehrenden Anpassungen die Kirchgemeinden vor große Herausforderungen stellten und vielerorts zu Demotivation führten. Aus diesem Grund wurde mit der Konzeption „Kirche mit Hoffnung in Sachsen“ der Versuch unternommen, den Horizont der Planungen weiter als bisher zu fassen um wiederkehrende Anpassungen zu vermeiden.
Gleichzeitig mussten mit den Einsparungen insbesondere im Personalbereich in Kirchgemeinden, Kirchenbezirken und im landeskirchlichen Haushalt Prioritäten gesetzt werden. So wurde die Jugendarbeit von Kürzungen ausgenommen und die Fort- und Weiterbildung von Ehrenamtlichen (Ehrenamtsakademie) strukturell ausgebaut. Die Bildungsbereiche innerhalb der Landeskirche sowie die Begleitung von Bildungsorten wie Kindergärten, den Evangelischen Schulen und die Beteiligung am Religionsunterricht wurden fachlich und inhaltlich intensiviert. Ebenso ist die Öffentlichkeitsarbeit dort verstärkt worden, wo Menschen in besonderen Lebensphasen nach kirchlicher Begleitung und Seelsorgeangeboten fragen.
Missionarische Initiativen und Angebote
Seit 2011 lenkt die Landeskirche verstärkt den Blick auf die Taufe, das Taufgeschehen in den Kirchgemeinden und mögliche Hemmnisse zur Wahrnehmung der Taufe. Das hat in vielen Gemeinden dazu geführt, sich bewusst den getauften Kindern zuzuwenden. In der sächsischen Landeskirche entstand im Rahmen des ‚Jahres der Taufe 2011‘ die Idee, zunächst einen, später insgesamt vier Taufsonntage zu initiieren und alle Gemeinden einzuladen. Mit den Erfahrungen liegt jetzt unter dem Titel „Tauffeste feiern“ eine Broschüre mit Anregungen für Kirchgemeinden aus den zurückliegenden Taufsonntagen vor. Diese Erfahrungen von Ansprache und Information, erprobter Gestaltung der Feier sowie die weitere Begleitung der Getauften sollen damit weitergegeben werden.
In vielen Gemeinden Sachsens gehören Tauf- und Glaubenskurse fest zum Programm der Gemeinde. Dabei gibt es eine große Vielfalt der Formen und Methoden. Die sächsische Landeskirche beteiligt sich seit 2011 unter dem Motto „Erwachsen glauben“ daran, Regionen der Landeskirche sowie die Diakonie Sachsen zu unterstützen, Glaubenskurse in Kirchgemeinden und diakonischen Einrichtungen zu einem Regelangebot zu machen, das über Angebote bei Bedarf hinaus geht.
Derzeit wird die "Initiative Missionarische Aufbrüche" konzeptionell für den Einsatz missionarischer Pfarrstellen in den Kirchenbezirken ab 2025 vorbereitet. Möglichst vielfältige Begegnungsformen sollen erprobt werden, um Menschen zu erreichen bei denen Kirche bisher kaum eine Rolle im Lebenskontext spielt. Die Projekte werden in besonderer Weise aus der Perspektive der Adressaten konzipiert und gestaltet. Gemeinden werden unterstützt, ihre Ideen auszuprobieren, ihre Erfahrungen zu reflektieren und zu teilen.
Bereich
„Die Studie bestätigt die Prognosen, die in unserer Landeskirche vorliegen und als Grundlage für die derzeit laufende Strukturanpassung dienen. Wir beschäftigen uns schon seit vielen Jahren mit dieser Entwicklung und reagieren in verschiedener Weise darauf: Zum einen blicken wir den Tatsachen ins Gesicht und bemühen uns um Strukturen und Sparmaßnahmen, die einer kleiner werdenden Kirche gerecht werden. Zum anderen versuchen wir durch die Stärkung von Kinder- und Jugendarbeit, evangelischen Kindergärten und Schulen, durch Taufsonntage und die Förderung missionarischer Projekte auch gezielt, in die Zukunft unserer Kirche zu investieren. Über all dem steht für uns als Christen aber eine große Hoffnung: Wir dürfen auf unseren Gott vertrauen. Auch in einer kleineren Kirche wird die Kraft dieses Glaubens spürbar bleiben und Menschen stärken.“